Liebe sich, wer kann (2021)

“Liebe sich, wer kann”
von Annette Mierswa
Loewe Verlag
ISBN: 978-3743212121

Auf gesellschaftliche Strömungen reagiert die Kinder- und Jugendliteratur atemberaubend schnell. Seien es die Folgen vom Klimawechsel mit den entsprechenden Empfehlungen für Verhaltensänderungen oder die Aufnahme von Covid-19-Themen, die Jugendliche in ihrer Pubertät berühren. Kaum haben Psychotherapeuten im Gefolge der aktuellen Pandemie die Zunahme an Angststörungen und Depressionen bei Jugendlichen registriert, tauchen auch schon die ersten Notfallkoffer zwischen Buchdeckeln auf. 

Jakobs Selbstwertgefühl geht gegen null, er ist in einem Käfig aus Panikattacken, selbstzerstörerischem Handeln und Denken gefangen. Dass hierfür sein Vater, seine Brüder sowie die mobbenden Mitschüler verantwortlich sind, kann er nicht mehr erkennen. In dieser gefühlten Endzeit bekommt er einen Anruf von der netten, sehr attraktiven Mitschülerin und Schulsprecherin Lotti, für Jakob ein Wesen aus einem anderen Universum, die ihn zu einer mehrtägigen Wanderung einlädt. 

Und damit beginnt der Roadtrip der beiden mit allen gruppendynamischen und realen Erlebnissen, die ein solches Event per se bereithält. Ausgelöst durch die körperliche Bewegung und die permanente Naturumgebung, die vor allem aus Wald besteht, erwachen auch Geist, Gefühle und Seele aus ihrer Versteinerung und erblühen. Das Atmen und Denken wird freier und leichter. Damit kehrt auch die Lebensfreude zurück. 

Überraschenderweise outet sich auch Lotti als hilfsbedürftig. Sie leidet unter Stress und schweren Depressionen. Ein zweiter Erzählstrang also, der mit Jakobs verknüpft wird – gemäß dem Plan der Schulpsychologin. Die Wanderung mit Rucksack und Zelt als aktiver Heilungsprozess für beide. 

Wer in unseren Breiten wandert, bleibt nicht lange nur für sich. Man trifft auf die verschiedensten Menschen, die einem Abenteuer pur bieten. Da waren die Guerillastricker in einem Waldgebiet, die per Stricken und illegalem Baumhausbau gegen eine geplante Waldrodung ankämpften oder Ben, der krebskrank und dem Tode nahe seine Do-before-die-Liste abarbeitete. 

Dazwischen immer wieder die plötzlich hereinplatzenden Anfälle an Ängsten und Selbstzweifeln bei beiden Protagonisten, die sich in Weinen, Schreien, Vorwürfen und Isolierung äußerten. Doch sobald das Leiden sich erschöpft hatte, – der Zweisamkeit sei Dank – kam das aus aus dem Körper losbrechende, heilende Lachen zurück. Die Aktivierung der Selbstheilungskräfte gelang, Jakob und Lotti sahen die Sonne wieder aufgehen. Doch Lotti ließ sich nicht blenden, sie begab sich in zusätzliche professionelle Behandlung. 

Der Leser leidet und hofft mit den Protagonisten, er erlebt die entspannenden, lustigen, abstrusen und schockierenden Szenen mit und schließt am Ende überglücklich Lotti und Jakob in sein Herz. Sie haben ja Unglaubliches geleistet. Eine wohltuende, Hoffnung verbreitende Geschichte – trotz der Schwere des Themas. Sprachlich versiert und kurzweilig erzählt.

Die höchste Leistung eines solchen Buches freilich wäre es, wenn Betroffenen tatsächlich geholfen werden könnte. Das freilich bleibt offen. Wenn das Drehbuch von extremen, höchst unwahrscheinlichen Szenen bestimmt wird, verringert sich dessen Wirkung. Nachmachen kaum möglich. Dasselbe gilt für die eingeflochtene Liebesgeschichte. Sie ist amüsant zu lesen, sehen das aber Betroffene genauso?     

Lesealter: Ab 16 Jahren
Daumen: 5

Ohne Zahlen geht nichts!: Wo unser Mathe-Wissen herkommt und wofür man es braucht (2021)

“Ohne Zahlen geht nichts!: Wo unser Mathe-Wissen herkommt und wofür man es braucht” 
von Johnny Ball 
ISBN: 9783831042975
Verlag Dorling Kindersley

Mathematik ist so manchem ein Graus und wird deshalb mit Angst in Verbindung gebracht. Das dies aber nicht ein ganzes Leben anhalten muss, beweisen unzählige Schüler. Sie verstehen Mathematik als Abenteuer, als Welt der puren Spannung. Der Universalgelehrte Galileo Galilei freilich ging noch weiter: “Mathematik ist das Alphabet, mit dem Gott die Welt geschrieben hat”, meinte er. Ein schöner Satz, stimmt er aber?

Dieses Buch, eine trockene Beweisführung? Dazu ist es inhaltlich zu aufregend, zu farbig und grafisch zu elegant gemacht. Außerdem will dessen Leserschaft Neuigkeiten, höchst Interessantes, Cooles, Spannendes  – und das bietet dieses Buch in Fülle an – und irgendwie versteckt auch eine Art Beweisführung.

Ein paar Kostproben:

Die alten Völker maßen die Entfernung nicht nach Kilometern (dieses Maß war nicht nicht erfunden), sondern nach der Zeit. Ein Berg war also “zwei Tage Fußmarsch” entfernt. Und um die Zeit messen zu können, bedurfte es der Beobachtung von Sonne, Mond und Sternen. 

Allerdings hatten die ersten Menschen, die als Jäger und Sammler die Wildnis durchsuchten, noch kein großes Interesse daran, die Zeit zu messen. Das kam erst, als sie anfingen, sich fest an einem Ort niederzulassen und ihr Getreide selbst anzubauen. Die Überlegung, wann man es am besten sät und wann man es am besten erntet, ließ in ihnen die Notwendigkeit entstehen, sich mit der Zeitmessung zu beschäftigen. 

Um die Pyramiden zu konstruieren, die auf einer exakt quadratischen Grundfläche stehen und exakt dreieckige Seitenflächen haben, mussten die alten Ägypter erst den rechten Winkel erfinden. Übrigens liegen die riesigen Steinblöcke so perfekt aufeinander, dass nicht einmal eine Kreditkarte dazwischen passt.

Um 200 v. Chr. hatte der griechische Mathematiker Eratosthenes mit einem kleinen Trick herausgefunden, dass die Erde rund ist. Anschließend zeichnete er eine Landkarte der Erde mit ziemlich genauen Längengraden. In seiner Karte gab es bereits unentdeckte Kontinente und Ozeane. Erst 1700 Jahre später verneigten sich die Wissenschaftler vor ihm: Alles super, Eratosthenes!

Die gesammelten und übersichtlich strukturiert dargebotenen Kurzinfos rauben einem den Atem und halten zur Demut an: vor den Strukturen, wie unsere Welt gebaut ist und vor den klugen Köpfen, die deren Geheimnisse Stück um Stück entschlüsseln. Alles verpackt in attraktive, knappe Texte und einem Design, das auf bildverwöhnte Kinder zugeht. Kann ein Buch großartiger, erfüllender, anregender sein? Wohl nicht.  

Lesealter: Ab 12 Jahren
Daumen:    5

Ein Haus auf Rädern (2021)

“Ein Haus auf Rädern”
von Wolf J. Gruber
Atlantis Verlag 
ISBN: 9783715207896

Kinder auf der ganzen Welt träumen vom Bau eines eigenen Häuschens. Aus Brettern, Ästen, Schnee oder Decken, gerne auch in Iglu-, Tipi-, Baumhaus- oder Höhlenform. Hier fühlt man sich wohl und geborgen. Latent mag der Wunsch nach Rückkehr in den Mutterleib vorhanden sein. 

Die Idee für ein “Eigenheim” kommt vom etwa achtjährigen Emil. Bei der Suche nach einem passenden Bauplatz im Wald trifft er Tante Zach, die auch als Oma sehr gut durchgehen würde. Zum Glück, denn sie wundert sich nicht lange über Emils Wunsch, sondern schließt sich ihm konspirativ an. Mit List lenkt sie den Tiny-House-begeisterten Emil in ihre Scheune um. Beim Blick auf den alten Traktor, Wagen, Heuwender und Kartoffelernter kommt das Ideenkarussell des Jungen erst so richtig in Schwung. Tante Zach klettert auf den Anhänger und schlägt ein Haus auf Rädern vor. Emil beschäftigt sich in Gedanken bereits mit den Details: Ofen, Turm, Fenster, Farben. Und Tante Zach skizziert, zeichnet, ordnet, sortiert aus, fixiert. Dann notiert sie all die Dinge, die man hierfür braucht. Und wiederum startet das Ideen-Feuerwerk in Emil: Stahlträger, Latten, Bretter, Ofenrohr. In seiner Begeisterung vergibt er an Tante Zach das höchst Lob: “spitzenoberklasse”. Was für ein Wunder, sie brauchen nicht mal einzukaufen, alles ist im Schuppen irgendwie vorhanden. Und schon arbeiten beide wie elektrisiert. Mit Säge- und Bohrmaschine, Metermaß und Hammer. Tagelang, zum Sprechen ist kaum Zeit. Die gefährlichen Arbeiten übernimmt Tante Zach.

Kein Wunder, dass sich bald die Nachbarn einstellen und neugierig umsehen. Emil ist stolz und überglücklich. “Der Knaller aber kommt erst morgen”, meint Tante Zach. Da wird sie das mobile “Tiny House” an den Traktor anhängen und sie beide werden den schönsten Platz hierfür aussuchen.

Zusammen mit den großflächigen, kindgemäßen Illustrationen ein Power-Buch, das seine Wirkung bei Jungen und Mädchen nicht verfehlen dürfte. Zum Vor- und Selberlesen. Es reiht sich ein in die Galerie herrlicher Geschichten des Großeltern-Enkel-Genres, von dem es eine ganze Menge gibt: von “Der kleine Lord (Frances H. Burnett) über “Heidi” (Johanna Spyri) und “Opas Engel” (Jutta Bauer) bis hin zu “Großvater und die Wölfe” (Per Olov Enquist). Alles Beispiele für die gelungene Kommunikation zwischen Alt und Jung, bei der Erfahrung und Neugier, Wissen und Tatendrang, Zuhören und Verständnis im lebendigen Austausch stehen.  

Lesealter: 6-9 Jahre
Daumen: 5

Die Mondblume (2021)

“Die Mondblume” 
von Einar Turkowski (2021)
Verlag Gerstenberg
ISBN: 9783836960724

Was “Die Mondblume” wirklich ist, darüber lässt sich endlos streiten: Ein Buch? Ein Traum? Eine Fantasie? Auf jeden Fall ein Werk, das verzaubert, verzückt, gleichermaßen entspannt und anregt; ein Kunstwerk, das der Vollendung nahe kommt. Dass die Geschichte selbst sich den überwältigenden Zeichnungen in traditioneller Bleistifttechnik unterordnet, akzeptiert der Leser gerne. 

Ein Mann, eher seltsam als normal, lebt zurückgezogen auf einer kleinen Insel. An Besuchern ist ihm nicht so sehr gelegen, er hat ja seinen Garten, der ihm all das gibt, das er zum Leben braucht: eine Welt voll verschlungener Pfade, steiler Treppen, lauschiger Ecken sowie voll außergewöhnlicher Pflanzen. Raum und Stimmung für Meditation, Kommunikation mit der Natur und ästhetischen Erlebnissen. Der zuletzt sich selbst eingenistete Sprössling, deren Art sich in keinem Lexikon findet, fordert von diesem Mann all seine künstlerische Inspiration, seine Intelligenz und seine Geduld. Wochenlang zeigt sich keine Knospe, dann erscheint eine – riesig in ihrer Art, doch sie will partout nicht aufgehen. Ungewöhnlich alles an ihr, doch seelenverwandt mit dem Einsiedler. Man kann ihm nicht vorwerfen, Ribblestone, so sein Name, vernachlässige sie. Schließlich spricht er täglich mit ihr, trinkt seinen Tee in ihrer Nähe und spielt ihr heitere Theaterszenen vor. 

Aber was ihm nicht gelingen will, schafft eines romantischen Abends der Vollmond. Plötzlich ist sie da, die Ausnahme-Blüte. Da singen auch schon die Nachtvögel, die Glühwürmchen tanzen. Ribblestone ist in diesem Augenblick gefühlsmäßig, visuell und akustisch von Schönheit umgeben, die jeglichen Rahmen sprengt. Das Ergebnis sind Momente des Glücks. 

Poesie steckt nicht nur im Text, mehr noch in den Illustrationen: filigran, traumhaft, fantastisch. Die schwarz-weiß-Zeichnungen leuchten, als erschienen sie farbig. Kunst, die Schöngeister high macht.

Verwundert fragt man sich nur, warum dieses Buch, wie alle Bücher von Turkowski, im Kinder- und Jugendbuchsegment erscheint. Erwachsene, offen für alles Schöne, scheinen hier die geeignetere Zielgruppe zu sein. 

Lesealter: Ab 11 Jahren
Anzahl der Daumen: 4