Antolin Spezial: Wege – Vom „Unterwegssein“ des Menschen

Antolin-Spezial, Juni 2013, Albert Hoffmann

„Aufbrechen in unbekanntes Land“ gehört zu den fundamentalen Erfahrungen des Menschen. Freilich ist davon nicht jeder in gleicher Weise betroffen; der eine mehr, der andere weniger. Der eine zeigt sich hierbei sehr aktiv, der andere eher passiv. Dieses „Über-dein-eigenen-Acker-hinausgehen“ (lat. ‚peregre‘) muss nicht freiwillig geschehen, es kann auch erzwungen sein. Am Ende des Weges spielt dies aber wohl nicht die große Rolle. Einer der Ersten, der sich in die Fremde begaben (begeben mussten), war – literarisch verbürgt – Abraham. „Der Herr sprach zu Abraham: Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde“, heißt es in der Bibel. (Gen 12,1) Dieses Sich-loslösen geht in der Regel nicht ohne Schmerz- und Trauerempfindung vor sich. Es ist ein Abschiednehmen – von Freunden, von einer Lebenswelt, die man kennt; von einer Landschaft, die man liebte.

Doch die Reise selbst, das Unterwegssein, bringt neue Erfahrungen mit sich. Es ist der Kontakt mit der Fremde, mit neuen Landschaften, Ländern, Kulturen und Menschen, die den Wanderer bereichern. Unvorhergesehenes wird sich einstellen, vielfältige, zum Teil abenteuerliche Erlebnisse werden nicht ausbleiben. All dies wird den Blick des Reisenden auf die Welt und auf das Leben weiten, vertiefen. Diejenigen, die ihr Unterwegssein mit einem spirituellen Aspekt erleben, berichten von dem Mehr an Lebenskraft und Lebensfreude, das sie dadurch erfahren haben.

Das dritte Wesenselement ist (neben dem Aufbruch und dem Unterwegssein) das Ankommen – als anderer, als reiferer Mensch, nun mit Er-fahr-ung. Auch dies von fundamentaler Wichtigkeit. Ein Handwerksbursch, der – wie früher üblich – ein paar Jahre im Lande umhergereist war und an verschiedenen Orten gearbeitet hatte, konnte nun auf einen reichen Wissensschatz zurückgreifen, wenn er wieder zu Hause war und vielleicht sein eigenes Gewerbe gründete.
In der Literatur wird dieser Prozess des „Unterwegsseins“ gerne dargestellt, stellt er doch eine sehr dynamische, oftmals lebensentscheidende Phase des menschlichen Lebens dar. Diese Form des Lernens erweist sich nicht immer nur als fröhliche Zeit. Oft genug muss diese Zeit durchlitten werden. Hier sind nicht selten Entscheidungen zu treffen, die die nächsten Jahre bestimmen. Sind sie falsch, lassen sie dies dem Protagonisten schmerzhaft wissen; sind sie klug, vereinfachen sie dessen Leben.

Anhand von drei Beispielen soll dies exemplarisch aufgezeigt werden:

Der gestiefelte Kater (Märchen von den Brüdern Grimm)
a)Aufbruch
Nach dem Tode eines Müllers fällt die Mühle an den ältesten Sohn, an den zweiten ein Esel und an den dritten ein scheinbar völlig wertloser Kater. Da bleibt ihm nur der Weg in die Fremde mit der Hoffnung auf Glück, um eine Chance zum Überleben zu haben. Der Kater, der überraschenderweise der menschlichen Sprache mächtig ist, vermag es nun aber, seinen Besitzer zu überzeugen, auf ein Paar Handschuhe, die sich aus dem Katzenfell anfertigen ließen, zu verzichten und stattdessen noch sein letztes Geld in ein Paar unsinnig erscheinende Stiefel für den Kater zu investieren.
b) Unterwegssein
Aus Dankbarkeit jagt der Kater Rebhühner und steckt sie in einen Sack. Diesen überlässt er dem König gegen eine Belohnung in Gold. Sodann verschafft er seinem Herrn, dem nun reichen Müllerssohn, ein einträgliches Grundstück mit Schloss, indem er den Vorbesitzer, einen Zauberer, bei dessen Eitelkeit zu mehreren Verwandlungskunststückchen überredet. Als dieser sich schließlich in eine Maus verwandelt, verspeist ihn der Kater.
c) Ankunft
Der ursprünglich arme, besitzlose Müller, der vom Kater nun als Graf ausgegeben wird, wird somit zum begüterten Grundbesitzer und heiratet schließlich die Königstochter.
Das Hinausgehen-in-die-Welt lohnt sich für den Müllerssohn. Freilich hilft die Märchenwelt hier ein wenig mit. Der Kater ist daran nicht unwesentlich beteiligt. Er spielt die Rolle einer guten Fee, die den Helden der Geschichte kräftig unterstützt. Alleine auf sich gestellt würde er das wohl nicht so elegant schaffen. Aber dem Schwachen bringt das Märchen, wie man weiß, viel Sympathie und ausgleichende Gerechtigkeit entgegen.

Der Zauberer von Oz (Traumgeschichte von L. Frank Baum)
a) Aufbruch
Dorothy lebt gemeinsam mit ihrem Onkel Henry, ihrer Tante Emmy und dem Hund Toto auf einer Farm in Kansas. Als ein Wirbelsturm die Region heimsucht, gelingt es Dorothy nicht mehr rechtzeitig, in den Sturmkeller zu flüchten. Der Wirbelsturm reißt das gesamte Farmhaus mit sich und mit ihm Dorothy und ihren Hund. Nach stundenlanger Reise setzt der Sturm das Haus auf einer Wiese im Land der Munchkins ab und begräbt dabei die Böse Hexe des Ostens unter dem Haus.
b) Unterwegssein
Unterwegs auf dem Weg zur Stadt nimmt Dorothy die Vogelscheuche von dem Pfahl, an dem sie hängt; sorgt dafür, dass der Blechmann sich wieder bewegen kann, und ermutigt den Feigen Löwen, mit ihr in die Stadt zu reisen. Alle drei sind davon überzeugt, dass der Zauberer von Oz ihnen das geben werde, was sie sich am meisten wünschen; der Vogelscheuche Verstand, dem Feigen Löwen Mut und dem Blechmann ein Herz. Sie schließen sich daher Dorothy und ihrem Hund Toto an.
Nach vielen überstandenen Abenteuern erreichen sie die Smaragdstadt erreichen. Sie dürfen nur einzeln vor den Zauberer von Oz treten. Jedem erscheint dieser in einer anderen Gestalt.
Der Zauberer verspricht, jedem von ihnen zu helfen. Doch müssen sie zuerst eine Bedingung erfüllen; einer von ihnen hat die Böse Hexe des Westens zu töten.
Als auch das in gemeinsamer Anstrengung geschafft ist, entpuppt sich der Zauberer von Oz als weiser, alter Mann, den einst eine Ballonfahrt von Omaha in das Reich Oz verschlagen hat.
Obwohl der Zauberer von Oz die Vogelscheuche, den Blechmann und den Feigen Löwen davon zu überzeugen versucht, dass ihnen weder Herz, Verstand noch Mut fehle, sondern lediglich der Glaube an sich selbst, muss er jedem erst eine Scheinarznei verabreichen, damit sie wirklich überzeugt sind, dass sie die Eigenschaften besitzen, die sie während der bisherigen Handlung bereits gezeigt haben.

c) Ankunft
Unter Tränen trennt sich Dorothy von der Vogelscheuche, dem Blechmann und dem Feigen Löwen, die in ihr jeweiliges Königreich zurückkehren. Dorothy und Toto aber kehren nach Kansas zurück, wo sie freudig von ihrer Tante und ihrem Onkel in Empfang genommen werden.
Auch hier stellt der Weg, den die Hauptpersonen zurückzulegen haben, einen Heilungsprozess dar. Den Hauptpersonen, die den Glauben an ihre eigenen Fähigkeiten verloren hatten (Vogelscheuche, Blechmann, Löwe) hilft alleine das gemeinsame Unterwegssein mit all den bestandenen Herausforderungen zu innerer Festigkeit und seelischer Stabilität. Indem sie Dorothy helfen, helfen sie sich selbst. Der Weg gibt ihnen Selbstvertrauen und Stärke zurück.

Aus dem Leben eines Taugenichts (Novelle von Joseph von Eichendorff)
a) Aufbruch
Ein Müller schickt seinen Sohn, den er einen Taugenichts schimpft, weil der ihn die ganze Arbeit allein machen lässt, hinaus in die weite Welt. Froh nimmt der Sohn seine Geige und verlässt sein Dorf, ohne ein klares Ziel vor Augen zu haben.
b) Unterwegssein
Schon bald hält neben ihm eine Kutsche, in der zwei Damen sitzen, die Gefallen an seiner Musik finden. Sie nehmen ihn mit auf ihr Schloss, nahe Wien, wo er sofort als Gärtnerbursche eingestellt wird. Bald verliebt er sich in die jüngere der beiden Damen und wird zum Zolleinnehmer befördert.
Doch auch hier hält er es nicht allzu lange aus. Er packt seine Sachen und zieht weiter „gen“ Italien. Dies soll sich für ihn nicht zum Nachteil erweisen. Wo immer er auch hinkommt, ist ihm das Glück hold. Eines Tages erhält er einen Brief von seiner Aurelie, die ihn bittet, wieder zu ihr zurückzukehren, da alle Hindernisse beseitigt seien und sie ohne ihn kaum mehr leben könne.
Zusammen mit drei Musikanten aus Prag erreicht der Taugenichts Wien. Im herrschaftlichen Garten findet er seine geliebte Schöne, Aurelie, wieder. Die verworrene Geschichte wird aufgeklärt. Aurelie sei gar keine Adelige, sondern ein Waisenkind, das von seinem Onkel, dem Portier, einst aufs Schloss gebracht und von der Gräfin als Pflegetochter angenommen wurde.

c) Ankunft
So steht einer Verbindung nichts mehr im Wege: Der Taugenichts heiratet seine Aurelie. Beide bekommen als Hochzeitsgeschenk ein kleines weißes Schlösschen samt Garten und Weinbergen geschenkt und beschließen, ihre Flitterwochen in Italien zu verbringen.

Die Romantiker (=„Lebenskünstler“), allen voran der „Taugenichts“, blicken optimistisch und mutig in die Zukunft und lassen das Leben wander- und abenteuerlustig auf sich zukommen. Sie streben nach Individualität und Freiheit und wollen mit der arbeitenden bürgerlichen Gesellschaft nichts zu tun haben.
Die Handlung des jungen Mannes, sich von Vaters Mühle zu entfernen und seinen eigenen Weg zu finden, erweist sich als sinnvoll. Er stellt sich dem Leben draußen, wird jedoch zugegebenermaßen von ihm nicht hart angepackt. So kann er in prächtiger Umgebung seine ersten Erfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht machen. Auch wenn der Taugenichts mehr oder weniger schwerelos durch die Welt spaziert, so wird sein Leben, seine Welt- und Menschenkenntnis doch bereichert. Zugute kommt ihm sein Offensein für das Fremde, Neue und Schöne. Arglos geht er auf andere zu und hinterlässt durch seine Leichtigkeit und Anspruchslosigkeit bei den meisten seiner Mitmenschen einen angenehmen Eindruck. Er liebt die Natur in all ihren Erscheinungsformen.

Folgendes Gedicht, das in diese Novelle eingebaut ist, spiegelt die Atmosphäre wieder, in der sich der „Taugenichts“ bewegt:

Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
Den schickt er in die weite Welt.
Dem will er seine Wunder weisen
In Berg und Wald und Strom und Feld.

Die Trägen, die zu Hause liegen,
Erquicket nicht das Morgenrot.
Sie wissen nur von Kinderwiegen,
Von Sorgen, Last und Not um Brot.

Die Bächlein von den Bergen springen,
Die Lerchen schwirren hoch vor Lust,
Was soll ich nicht mit ihnen singen
Aus voller Kehl und frischer Brust?

Den lieben Gott lass ich nun walten,
Der Bächlein, Lerchen, Wald und Feld
Und Erd und Himmel will erhalten,
Hat auch mein Sach‘ aufs Best bestellt.

Neu im Onilo Blog Juni 2013: “Ein Prosit auf die LehrerInnen mit Pioniergeist”

Onilo Blog-Beitrag, Juni 2013,  Albert Hoffmann

Die Wunschliste, wie ein Lehrer sein soll, ist lang. Ganz oben rangieren Gerechtigkeit und Freundlichkeit, gefolgt von Geduld und Engagement. Zu Letzterem zähle ich auch Mut und Pioniergeist. Was für ein Glück, wenn ein Lehrer, eine Lehrerin auch diese Eigenschaft mitbringt!


„Alles fließt“ – so beschrieben die alten Griechen kurz und prägnant den steten Wandel unserer Welt und unseres Lebens. Überall, zu jeder Zeit. Das unterrichtliche Handeln bildet da keine Ausnahme. Permanent muss es dem „Fluss der Zeit“ angepasst werden. Das ist nicht einfach, nur allzu gerne würde man sich viel lieber in eine Oase der Ruhe zurückziehen. Die Moderne im Schulalltag zeigt sich heute vielfach im elektronischen Outfit. Verlockend, gewiss – mit den fantastischen Möglichkeiten des Internets, den leuchtenden Farben, den verschwenderischen Formen, den animierten Darstellungen, der Fülle an Informationen in Echtzeit, der interaktiven Nutzung, dem hohen Motivationspotential für unsere Schüler!


Aber auch mit der gefährlichen Chance, seine Frustrationstoleranz zu überschätzen. Der Insider weiß, dass die Stressbelastung, der ein Lehrer ausgesetzt ist, sich potenziert, wenn er – in voller Vorfreude auf die Nutzung eines modernen, internetbasierten Mediums – durch technische Probleme gebremst wird: Da fehlt das Passwort für WLAN, da ist noch ein Proxy-Server vorgeschaltet, in dem Raum kann WLAN nicht empfangen werden, da lässt sich keine geeignete Projektionsfläche im Klassenzimmer finden, das Klassenzimmer ist zu klein, sodass die Kinder nicht im Halbkreis um die Tafel sitzen können, der (billige) Beamer ist relativ laut oder kommuniziert nicht mit dem Laptop etc… All das im Umfeld von unruhigen, quengelnden Schülern. Nur wer die Schule von innen kennt, weiß, zu welchen Blüten Adrenalin die Situation treiben kann.


Zum Glück gibt es aber auch die Erfolgsstories: Erfahrungen, die Mut machen und Kraft geben. Ist es dem Lehrer-Pionier (vielleicht mithilfe des Technik-Beauftragten, des Elektrikers, Schulleiters, Hausmeisters oder wem auch immer) gelungen, die moderne Technik stabil im Klassenzimmer zu integrieren, darf er sich zurücklehnen und durchatmen. Er hat ein weiteres „Staatsexamen“ bravourös durchlitten, gemeistert und die unterrichtliche Methodik in seinem Klassenzimmer ein gutes Stück in das 21. Jahrhundert gehievt. Nun ist er in der Lage, auf eine Reihe weiterer, motivierender Elemente in seinem Unterricht zugreifen zu können; nicht nur für heute, auch für die nächsten Wochen, Monate und Jahre – den Schülern und ihm selbst zur Freude. Er darf sich sicher sein, dass diese Freude weitere Lern-Motivation bei den Schülern und Arbeitserleichterung bei ihm selbst erzeugt.


Am Beispiel Onilo dürfte dies so aussehen: In dem Klassenzimmer, in dem das internetgebundene Onilo „läuft“ (ohne Stress – via Interaktivem Whiteboard oder via Beamer und Laptop, die fest im Klassenzimmer installiert sind), dürfte die Freude sich bald einstellen: Leuchtende Kinderaugen und freudiges Getuschel, wann immer der Lehrer eine Boardstory aufruft. Lautes Vorlesen zum Vergnügen, Verschlingen der Geschichte mit Auge und Ohr, emotionales Erleben der Story mit dem Lehrer. Was auch immer an Inhalt und Gehalt in der Geschichte steckt, es erschließt sich den Kindern durch die zeitgemäß-ansprechende technische Aufbereitung und durch das lockere Gespräch mit der (erwachsenen) Lehrperson. Oder mit den Worten einer Schulleiterin: „Wir beschließen jede Schulwoche (Freitag, 6. Stunde) mit einer Onilo-Boardstory. Wir genießen gemeinsam eine schöne – egal ob eher lustig oder traurig – Geschichte. Anschließend gehen wir fröhlich- entspannt ins Wochenende.“


Für den Lehrer erfordert eine solche Lese- und Literaturstunde nicht die große Vorbereitung. Das Lesen, Drübersprechen und Sichfreuen an dem Buch ist oftmals Leistung genug. „Was hier zählt, das ist die emotionale Annäherung an Literatur“, so hörte ich es kürzlich von einem Lehrer im schweizerischen St. Gallen. Ich selbst bin zutiefst überzeugt, dass ein solch atmosphärisch-heiterer Unterricht eine Menge an nachhaltiger Wirkung zeitigt.