Ein Ereignis der Extraklasse erwartet den Leser, ein sportlich-spannendes; klar, wir befinden uns auf einer Pferderennbahn; aber ebenso ein gesellschaftliches, betrachtet man die Herrschaften auf der Tribüne. Noch tut sich nichts auf der Rennbahn, Zeit also, sich die Besucher etwas genauer anzuschauen. Hier findet man nicht Hinz und Kunz aus dem fünften Stock einer Plattenbausiedlung, dieser Sportart hat sich die High Society verschrieben – oder denen, die sich dazu zählen. Für die feinen Damen in schicker Nerzstola oder stylishem Seidenkleid ist dieses Umfeld der perfekte Ort, um mit angesagter Mode zu glänzen. Insbesondere mit gewagten, gerne auch leicht durchgeknallten Hut-Kreationen, egal ob breitkrempig transparent mit kecker Feder oder turmartig verschlungen in tiefem Rot – mit dem entsprechenden Outfit kann jeder optisch auf sich aufmerksam machen. Das berühmte Ascot lässt grüßen, doch die Galopprennbahn Freudenau in Wien tut es auch, sicherlich auch Riem oder Daglfing in München. Im Vergleich dazu wirken die Herren in ihren dunklen Anzügen mit weißen Hemden und Krawatten sowie mit Zylinder oder Borsalino geradezu unauffällig.
Alles hätte bei diesem Event so schön normal werden können: die erwartungsvoll-wohlige Stimmung war da, die Wetten abgegeben, die stille Hoffnung auf einen satten Gewinn im Kopf verankert – wäre da nicht die urplötzlich um sich greifende Unruhe gewesen, die bei so manchem Auslöser für hysterisches Verhalten war.
Und tatsächlich, sobald die Stalltüren geöffnet waren, konnte man das Einschießen von Adrenalin in den Besucherreihen geradezu fühlen. Die gute, alte Rennbahnkultur schien dahin, zerbrochen ohne Vorwarnung, als man statt der Rennpferde Kamele hereinführte. Es interessierte letztlich niemanden, dass sie aus aller Welt stammten und Renn-Tiere erster Güte waren.
Kaum war der Startschuss verklungen, war auch das Spiel- und Wett-Fieber wieder da. Jockeys mit Leidenschaft gestalteten die Atmosphäre, wegen der man schließlich gekommen war. Ob auf Pferden oder Kamelen – das war jetzt eher die Nebensache. Hauptsache, man hatte am Ende einen Sieger, einen König, dem man zujubeln konnte und man konnte einen Wett-Gewinn mit nach Hause nehmen.
Heiß ging es her in der Hektik des Kampfes, ob Wüstenblume, Kala, Maura, Oase oder Sandsturm – die Wüstentiere schenkten sich auch in Wien nichts. Schon befand man auf der Zielgerade, dem Sieg so nahe, die Spannung zum Zerreißen gespannt. Doch hoppla: Zentimeter vor der Ziellinie blieben die Kamele mit einem Ruck stehen, Staub wirbelte auf und sämtliche Reiter landeten nach einem beeindruckenden Bogenflug im Sand.
Das war der Höhepunkt, der ultimative Gag, der in den Köpfen der Renn-Kamele geboren war. Er war gelungen, ausgezeichnet sogar. Träumten sie oder war es Wirklichkeit? Kurz darauf aber brachen sie in schallendes Gelächter aus. Die Besucher auf der Tribüne brauchten mehr Zeit, um diese außergewöhnliche Szene einordnen zu können. So etwas hatten selbst die Härtesten unter ihnen noch nie erlebt, ihr Blick wechselte zwischen den Kamelen und ihren Wettscheinen hin und her. Er verriet Hilflosigkeit und Irritation.
Am Ende war es ein Kind, das die Blockade bei den Erwachsenen löste und für einen heiteren Ausgang sorgte. Dem Mädchen sei Dank.
Eine Geschichte, so ganz nach Denkweise und Stil von dem Wiener Autor Heinz Janisch. In seinen Werken darf man auf den Überraschungseffekt zählen. Nur die Welt so zu beschreiben,
wie sie ist, ist seine Sache nicht. Seien es die Personen und deren Handlungen, sei es die spezielle Situation, immer taucht an einer Stelle ein irreales Etwas auf, das die Normalität aus den Angeln hebt oder ad absurdum führt. Hier sind es die Kamele, die den Menschen den Spiegel vorhalten. Mal ist es ein Lehrer, der sich so ganz unlehrerhaft benimmt („Herr Kratochwil kommt fast zu spät“), aber gerade dadurch seine Schüler zu seinen Fans macht; mal ist es eine Großmutter, die durch ihre aus der Rolle fallenden Aktionen ihrem Enkel das Beste bietet, das eine Großmutter nur geben kann („Frau Friedrich“).
Dieser Bruch mit der Realität verschafft Heinz Janischs Geschichten die Skurrilität, die Witz, Lachen und Nachdenken beim Leser generieren und sie so einmalig, so lebendig und frisch erscheinen lassen. Das Vergnügen, dass das Lesen seiner Bücher mit sich bringt, zieht nicht nur Kinder in seinen Bann. Erwachsene, ob in vorlesender Funktion oder nicht, fallen diesem Zauber ebenfalls anheim. Und wenn bei „Das Große Rennen“ die gesellschaftliche Persiflage bei Kindern nicht in ihrer Tiefe ausgelotet wird, so verliert dieses Buches dennoch nichts von seiner Qualität. Selbst wenn man dieses Buch nur auf einer unteren Ebene betrachtet, versprüht es Freude und Gewinn genug.
Am Ende sei jedoch noch darauf verwiesen, dass bei Bilderbüchern die Leistung des Illustrators dem Autor ebenbürtig ist. Ein Heinz Janisch ohne die genialen Bilder von Gerhard Haderer („Das große Rennen“) oder Helga Bansch (Frau Friedrich), das wäre wie ein Picasso ohne Farbe, wie ein E-Auto ohne Batterien.