Bücher, die das Lesen leichter machen

(Antolin-Spezial, Essay)

Albert Hoffmann

Bücher für den, der zu lesen beginnt 

Die Entdeckung der Leseanfänger

Wieder einmal waren die US-Amerikaner schneller. Früher als die Europäer hatten sie die Leseanfänger als eigene Gruppe entdeckt und für sie die Buchreihe „I can read“ entwickelt. Wer also von den Schülern der schulischen Leselernwelt, die auf Fibel und Lesebuch setzte, entfliehen wollte, griff zu dieser neuen Art von Büchern. In Deutschland wurde diese Reihe vom Verlag Carlsen unter dem Namen „Lerne lesen“ herausgebracht. Die Wesenselemente waren: ca. 60 Seiten, großer Druck, viele, meist farbige Illustrationen, ein den 6-Jährigen vertrauter Wortschatz, viele Wiederholungen, kurze Sätze. Über den Inhalt der Geschichten weiß die ZEIT-Rezensentin Dagmar Kosanke im Jahr 1965: „…so amüsant, lehrreich, spannend oder märchenhaft, dass es eine wahre Freude ist, sie zu empfehlen.“

Bekannter wurde im deutschsprachigen Raum jedoch die seit den 1980er Jahren  erscheinenden „Rirarutsch-Lesebilderbücher“ im Löwe-Verlag der Autorin und Illustratorin Margret Rettich. Sie setzte verstärkt auf die Macht der Bilder („Mit Bildern lesen und lernen“). Diese Bände lebten vor allem von Farbe und Bildern. Als eine der Ersten neben Sigrid Heuck setzte sie Vignetten für Namenwörter in die Lesetexte ein. Auch bei Margret Rettich wurde auf große Schrift und den entsprechenden Zeilenabstand geachtet.

Der Löwe-Verlag hatte allerdings schon in den 1970er Jahren mit der Herausgabe der Leselöwen-Bände, ebenfalls einer (klassischen) Erstleser-Reihe, begonnen. Jeder Band enthielt etwa zehn Geschichten, die sich inhaltlich um ein Thema rankten. Zumeist waren sie von einem Autor geschrieben. In Großdruckschrift. Titel, die man sich einfacher (und langweiliger) nicht vorstellen kann: „Pferdegeschichten!, „Mädchengeschichten“, Höhlengeschichten“… Und dennoch wurde diese Reihe sehr schnell zu einem Verkaufsschlager, der andere Verlage dazu verleitete, Ähnliches zu machen. Bis heute findet man die „Leselöwen“ auf dem Markt, nun jedoch eingebettet in ein vergrößertes Erstleser-Konzept.

Zusammen lesen

Mit einem anders gearteten Konzept zur Leseförderung trat cbj (Random House/ Bertelsmann) an: Ein Erwachsener und ein Kind lesen zusammen ein Buch. Dadurch – so der pädagogische Hintergedanke – würde das Kind optimal an das Buch und an das Lesen herangeführt werden.

Neu an dieser alten Methode war lediglich die behutsame didaktische Aufbereitung dieser Bücher. Mit großem Erfolg, wie sich zeigen sollte. Festgelegt wurde hierbei Folgendes:

–          Die Textabschnitte: Der Erwachsene hat längere zu lesen, für den Leseanfänger sind die kurzen gedacht.

–          Die Schriftgröße: Groß für das Kind, kleiner für den Erwachsenen.

–          Der Bildanteil ist relativ hoch.

Mit diesem System knüpft man sichtbar an die Vorlese-Situation an, wie sie schon die Kleinkinder zu Hause, später dann die Kindergarten- und die Vorschulkinder erleben. Nun erfährt das Kind, dass es auch selbst lesen, ja sogar vorlesen kann.

In pädagogischer Hinsicht kann man diese Art der Leseförderung nur gutheißen. Kein Wunder, dass andere Verlage diese Idee aufgriffen und (in etwas abgewandelter Form) in ihr Programm aufnahmen.

Die Übersicht:

–          Erst ich ein Stück, dann du (cbj)

–          Ich für dich, du für mich (Loewe)

–          Zu zweit leichter lesen lernen (Carlsen)

–          Wir lesen zusammen (Arena)

Die aktuellen Erstlese-Reihen

In den 1990 er Jahren konzipierte der Literatur- und Sprachdidaktiker Peter Conrady für den Arena-Verlag ein Erstlese-System, das die Bücher gezielt an den Entwicklungsstadien der Kinder ausrichtete. Er schuf ein Stufensystem, das sich an der individuellen Lernentwicklung der Kinder orientierte. Peter Conrady hatte nicht nur die Buch-Inhalte im Blickfeld, sondern ebenso Syntax, Semantik, Satzkonstruktion, Textgliederung, Schriftgröße, Layout und Illustration.

Mit dieser Ergänzung zur bestehenden Kinderliteratur kam er nicht nur vielen Kindern entgegen. Auch Eltern und Lehrern. Sie konnten sich bei dieser Art Bücher sicher sein, dass sie passgenau auf ihre Kinder zugeschnitten waren und infolgedessen auch die angegebene Alters-Empfehlung stimmte.

Die große Hoffnung, die man mit dieser Erstleser-Systematik verbindet, liegt auf dem relativ leichten, ungestörten Zugang zu Büchern und zum Lesen (also: keine Schwierigkeiten bei Inhalt und Sprache!). Hier, so glaubt man, wird der Boden für einen späteren Zugang zur großen Welt der (qualitätvollen) Literatur eher geschaffen als durch inhaltlich und sprachlich schwierige Bücher, die letztlich nicht in der Lage sind, die Kinder zum Weiterlesen zu animieren.

In unsere Sammlung wurden Erstlesereihen von folgenden Verlagen aufgenommen:

–          Löwe/ Oetinger/ Carlsen/ Duden/ Ravensburger/ Arena/ Mildenberger/ Xenos/ Ars Edition/ Tulipan

Da soll nicht heißen, dass sich nicht auch andere Verlage um die Erstleser bemühen. Interessant erscheint auch folgende Beobachtung in Antolin: Grundsätzlich werden Erstlese-Reihen sehr eifrig gelesen. So manche Neuerscheinung taucht bereits kurz nach dem Erscheinungstermin als Fragensatz in Antolin auf. Es gibt Reihen, die in rekordverdächtiger Zeit in Antolin updated werden.

Der Ausdruck „Erstleser“ trifft die Klientel sehr gut, sind es doch exakt die Kinder, die gerade mit dem Selberlesen beginnen, sich also in der ersten Phase des Schriftsprachenerwerbs befinden. Diese Kinder haben – in der Regel – bereits Erfahrungen mit dem Medium Buch gemacht, in Form von Pappbilderbüchern, Bilderbüchern oder Vorlesebüchern. Des Weiteren darf man annehmen, dass die heutigen 7, 8, 9-Jährigen bereits eine ganze Menge an elektronischer Medienerfahrung mitbringen. Man darf davon ausgehen, dass diese Kinder diese Medien zumindest indirekt miteinander vergleichen. Das Lesen eines Buches erfordert  Konzentration, innere Ruhe und Ausdauer. Nicht ganz einfach! Keine Frage, der „Aufbau einer stabilen Lesemotivation“ (Kirsten Boie) ist und bleibt ein wichtiges Ziel von Schule und Elternhaus. Wenn Inhalt und  Struktur der Bücher den Erstlesern entgegenkommen, so ist dies zu begrüßen. Bezieht man sich auf die Verkaufszahlen und die Lesezahlen in Antolin, so darf man sicher sein, dass die „Erstlesebücher“ ihren Teil zum großen pädagogischen Ziel, die Kinder zu Lesern zu manchen, beitragen.

Nichtsdestotrotz gibt es immer wieder kritische Stimmen. Verglichen mit so manchem qualitätsmäßig sehr hochstehendem Bilderbuch (Beispiel: Laura“ von Binette Schröder (Nord-Süd)) fallen die Erstlesebücher doch recht simpel und allzu einfach gestrickt aus. Auf die Kinder, die an die ästhetisch und inhaltlich-literarisch hochwertigen Bilderbücher gewohnt sind, dürfte das Lesen von Erstlesebüchern eher ernüchternd wirken und letztlich einen Rückschritt bedeuten. In den Bilderbüchern der Premiumklasse wird den Illustrationen beispielsweise eine eigenständige, gleichberechtigte Erzählform zugestanden. Sie stehen in einer spannungsvollen Wechselbeziehung zum Text. In den Erstlesebüchern sind die Illustrationen im Allgemeinen braver Abklatsch des Textes. Für die Verlage ist es eine Gradwanderung, Bücher zu machen, die genau im Schnittpunkt von Lesemotivation, Lesegenuss und literarischer Qualität liegen.

Allerdings legen so manche Verlage den größten Wert darauf, auch in die Erstlesereihen Autoren einzubinden, die zur Elite der Kinder- und Jugendbuchschriftsteller gehören. Wenn Erstlesebücher als Autoren Paul Maar, Kirsten Boie oder Cornelia Funke ausweisen, können die Geschichten so schlecht nicht sein. Diese Autoren bürgen für Qualität – Eigenständigkeit der Illustrationen hin oder her. Zum anderen tauchen in letzter Zeit kreative Ansätze für Qualitätsverbesserungen bei Erstlesereihen auf, die zu Recht Beachtung verdienen. Als federführend darf man hier den jungen Tulipan-Verlag (Berlin, 1996 gegründet) nennen. In seinen Erstlesebüchern findet eine Interaktion zwischen Text und Illustration statt. Hier beteiligen sich die Illustrationen beispielsweise am ambivalenten Verhältnis der Protagonisten: teils unterstützen sie deren Haltung, teils parodieren sie diese. „Die Bilder unterstützen die komisch-traurige Erzählung der Protagonisten, übernehmen stellenweise das Erzählen oder weisen über die eigentliche Geschichte hinaus und eröffnen Leerstellen und weitere Zugänge.“ (Bettina Oeste in „Erstlesebücher – Einstieg, Übergang, Zwischentief?“, kjl&m, 12.2)

Anhang:

Nicht uninteressant sind die Marketing-Aktionen, die die Verlage rund um die Erstlesebücher inszenieren. Einige Beispiele: Bei Arena vertraut man auf die Wirkung des „Bücherbär-Maskottchens“, das am Ende eines jeden Lesebändchen baumelt. Des Weiteren gibt es „Übungshefte“ und „Stickerbögen“, „Leserätsel“ und „Suchbilder“. Bei Oetinger werden die Kinder, wenn sie die Inhaltsfragen am Ende des Buches richtig gelöst haben, zur Belohnung ins Internet eingeladen, um auf der eigens eingerichteten Seite „Lunaleseprofi“ weitere Abenteuer (diesmal im Weltraum) zu erleben. Bei Duden dürfen sich die Kinder über „Detektivwerkzeug“ und „Lesezeichen“ freuen, mit denen sie ihr Textverständnis überprüfen können. Bei Ravensburger dürfen sich die Kinder – nach erfolgreich abgeschlossenen Verständnisfragen – an den Verlag selbst wenden und bekommen eine Belohnung (Gewinnspiel). Ravensburger gibt sogar eine eigene Zeitschrift für die Erstleser heraus („Leserabe“).

Bei aller Begeisterung für zusätzliche Motivationshilfen bleibt es nicht aus, dass in manchen Fällen auch über das Ziel hinausgeschossen wird. Da werden Bücher angeboten, bei denen jede zweite Seite mit Text-Verständnis-Fragen vollgepflastert ist. Es fällt schwer zu glauben, wie beim Lesen einer so oft und so regelmäßig ununterbrochenen Geschichte noch Lesefreude aufkommen kann.

 Liste der Erstleser-Bücherreihen