Von einem, der in Kanadas Norden sich selbst und seine große Liebe findet

Schneetänzer
von Antje Bebendererde
Verlag: Arena
ISBN: 978-3401604411

Seit etwa dreißig Jahren beschäftigt sich die Schriftstellerin Antje Babendererde mit den Indianern Nordamerikas und deren Begegnung mit der europäisch geprägten Kultur. Ihre Auswertung erfolgt auf literarischer Ebene. Mit fiktiven Figuren in originärer Umgebung. Tritt ein Weißer in die Lebenswelt eines Indianerstammes ein, entwickelt sich eine spannende Interaktion, die allemal Überraschungen gebiert und  romantische Vorstellungen auflöst.

Doch dieser Jugendroman besteht nicht nur aus diesem, sondern aus einer Reihe von Spannungspolen: Der 18-jährige Jakob möchte seinen Vater kennen lernen, ist letztlich also auf der Suche nach sich selbst. Das Verhältnis zu seiner Mutter scheint gestört, hat er doch von ihr bezüglich seines Vaters bisher nur eine wirre Lügenstory aufgetischt bekommen. Von seinem Stiefvater erfährt er, dass sein biologischer Vater in Kanada lebt und Cree-Indianer ist. Später kommt dann noch ein dramatischer Unfall, eine Liebesgeschichte sowie die Missbrauchs- und Gewaltgeschichten in einem Internat hinzu. Etwas viel für einen Jugendroman.

Obwohl Jacob kurz vor seinem Abitur steht, drängt ihn die Neugierde um seine Herkunft in den kalten, winterlichen Norden von Ontario. Denn dort, in dem Städtchen Moosonee, zu dem es keine Straßenverbindung gibt, soll sein Vater wohnen.

Schon im Polar-Bear-Express lernt er ein Cree-Mädchen kennen, das mit seiner viel zu großen Jungenkleidung so ganz aus der Reihe fällt. Ihm gegenüber ist sie kurz angebunden, doch der Leser ahnt bereits, dass dieses Mädchen namens Kimi noch eine entscheidende Rolle im Roman spielen wird.

Greg Cheechoo, seinen Vater, wird Jacob erst am Ende kennen lernen. Zunächst macht er Bekanntschaft mit anderen Leuten aus Moosonee, die sich noch an ihn erinnern, schließlich hat er mit Vater und Mutter die ersten vier Jahre hier gelebt.

Faszinierendes Abenteuergeschehen im winterlich-eisigen Kanada steht für den ersten Teil, mit einem Kampf von Jacob gegen einen Bären als Höhepunkt. Dass Jacob im letzten Moment gerettet wurde, hat er Anak, einem alten Cree, zu verdanken. Dieser wohnt zusammen mit Kimi, dem Mädchen aus dem Polar-Express, seiner Enkelin, in einem einfachen Holzhaus.

Der zweite Teil des Romans ist der inneren Entwicklung Jacobs gewidmet. Während Kimi sich um Jacobs Gesundheit kümmert, lernt er Lebensweise, Gedankenwelt und Mythen dieses Indianerstammes kennen. Nebenbei genießt er die aufkommenden Frühlingsgefühle in seiner Beziehung zu Kimi.

Was er inmitten der kleinen Cree-Gemeinschaft erlebt und erfährt, lässt ihn tief in die Kultur, das Wesen und Denken dieses Volkes blicken. In Jacob findet nicht nur ein kognitiv-geistiger Lernprozess statt, sondern auch eine emotionale Annäherung, die ihn persönlich verändert.

Antje Babendererde erscheint es wichtig, innerhalb ihrer fiktiven Geschichte auch historische Ereignisse mit zu verarbeiten. So erzählt sie ausführlich von einem katholischen Internat in Moosonee, in dem Ordensleute (männlich und weiblich) Übergriffe sexueller und gewalttätiger Art verüben.

In der letzten, eher kurzen Einheit trifft Jacob auf seinen Vater. Aber zu diesem Zeitpunkt ist Jacobs Lern- und Umwandlungsprozess schon so weit fortgeschritten, dass diese Begegnung nur mehr eine Abrundung darstellt. Jacobs Suche nach seiner Identität ist geglückt. 

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Antje Babendererde ist eine geniale Erzählerin, die den Leser mit traumhafter Sicherheit in andere Welten einführt. Auch wenn sehr viele Ereignisse rund um Jacob passieren, so folgt man dem Helden aufgrund ihrer munteren, frischen Sprache, des spannenden Sujets und des exotischen Settings gerne. Ausgezeichnet gelingt ihr die Schilderung des rauhen Klimas und der lebensbedrohlichen Landschaft. Auch die Beschreibung der Menschentypen, die das Leben, besser das Überleben in dieser Umwelt meistern, ist wunderbar.

Man hat jedoch den Eindruck, dass Babendererdes Indianer-Darstellung dem Idealbild von Jean-Jacque Rousseaus “Edlem Wilden” sehr nahe kommt: der Mensch ohne die Bande der Zivilisation sei von Natur aus gut. Dessen Falschheit ist inzwischen aber längst bewiesen.

Schade auch, dass sich die Autorin auch auf die höchst komplizierte und vielschichtige Kolonial- und Missionsgeschichte einlässt. Aber es scheint zurzeit en vogue zu sein, fiktive Jugendromane mit derartig emotional-aufwühlenden Themen “anzureichern”.