Wie man eine Raumkapsel verlässt

“Wie man eine Raumkapsel verlässt”
von Alison McGhee  (Autor), Birgitt Kollmann (Übersetzer)
Verlag: dtv
ISBN: 9783423640718

Die positiven Wirkungen des Gehens auf das Wohlbefinden – nicht jeder kennt sie. Will aber, 16 Jahre alt und mit einer extremen Lebenssituation beladen, spürt dessen Heilkraft intuitiv. Sein tägliches Gehen hilft ihm, nicht verrückt zu werden. 

Wills Vater beging Suizid, Playa, seine Freundin, wurde vergewaltigt. Bleibt da noch die Kraft oder Lust zu atmen? Will taumelt, aber er fällt nicht. Er, der Glückliche, findet nach einer Phase der Abschottung in seiner Ich-Kapsel, Strukturen zum Überleben. Das Gehen zum Beispiel. Hier ist man wohlig geerdet und kann seine Wut und seine Enttäuschung in den Boden stampfen. Pilger nach Santiago de Compostela kennen diese Methode.

Zunächst sind für ihn nur die positiv besetzten Wege begehbar. Die Straßen, die mit negativer Erinnerung besetzt sind, meidet er. Will, der freundliche, beliebte Junge, versucht es auch mit dem Transferieren positiver Gefühle an andere. Das hat den Vorteil, dass etwas an Lebenselixier zurückschwappt. Einsamkeit ist in jedem Menschen angelegt, aber auch der Wunsch nach Nähe zu anderen Menschen. Letzteres beinhaltet einen Gesundungseffekt.   

Die Spuren zurück ins farbige Leben hat sich Will gelegt, das konkrete Ansteuern seiner Probleme, vor allem das Auflösen von inneren Blockaden, fehlt noch. Das aber geht nur über Playa. Es kostet ihm Überwindung, doch dieser Weg ist der richtige. 

Für Alison McGhee, der Autorin, verlangt eine solch hochemotionale Geschichte eines jungen Menschen nach einer schriftlichen Gestaltung der besonderen Art. Aus ihrer Beschäftigung mit Gedichten kommt für sie nur eine Form infrage: eine Art Dichtung, poetisch und knapp, die  Emotionalität am stärksten auszudrücken vermag. Ellenlange Texte wirken ermüdend, kleine, kurze Episoden jedoch sprühen vor Kraft, auch wenn sie nur aus Gedanken bestehen. Unterbrochen von ebensovielen Kalligraphien fügt sich das Mix zu einem originellen, filigranen, ruhigen Gemälde eines Teenager-Lebens, über dem Hoffnung schwebt. Poesie verlangt ein gewisses Maß an Mitdenken, Kombinieren und Kreativität. Dafür wird man mit Freude belohnt, die swingt und berührt.   

Lesealter: 14 Jahre und älter
Daumen: 5

Paul baut.

“Paul baut”
von Thibaut Rassat (Autor, Illustrator), Katharina Knüppel (Übersetzer)
Verlag: Prestel
ISBN: 9783791374574

Es scheint so einfach zu sein, sich als Mensch zu ändern. Ist es aber nicht. Dem Mutigen, der das Alte verlässt und sich auf Veränderung einlässt, lacht das Glück. 

Der Illustrator und Architekt Thibaut Rassat aus Paris kennt diesen philosophischen Gedanken und kann ihn in genialer Weise für Kinder umsetzen. Sein Protagonist, ein begabter Architekt, baut Häuser in Perfektion: rechtwinklig, senkrecht, in Kuben angewandte Geometrie, Konstruktionen in quader- und würfelförmigen Formen. Kurz: übersteigerte Hirngeburten als Gegenstück zu der sich frei entwickelnden Natur. 

Was aber, wenn über Nacht ein stattlicher Baum in ein nahezu vollständiges Bau-Glanzstück kracht? Exakt in das Wohnzimmer des Bauherren. Die sich anbietende Logik wäre: der Architekt verfällt dem Wahnsinn. Doch die Bauarbeiter retten ihn dank ihrer praktischen Veranlagung. In Sekundenschnelle ist die Motorsäge zur Hand und …

Zum Glück ist Thibaut Rassats Protagonist tatsächlich ein Genie, einer, der in solchen Extremsituationen zu wahrhafter Größe aufläuft. Sekunden der Betrachtung des in Schieflage befindlichen Baumes genügen, um zu erkennen: dieser Baum ist mehr als ein menschliches Kunstwerk. Er ist Schönheit in natürlich-reiner Form, als Ganzes und im Detail. Den mit der Motorsäge zerstören – niemals! 

Die nächsten Tage sind der Metamorphose des Architekten gewidmet. Seine Häuser sollen in Zukunft Wohnstätten sein, in denen Pflanzen, Tiere und Menschen leben und voneinander profitieren. 

Thibaut Rassat ist etwas Wunderbares gelungen. Geleitet von einer tiefen Weisheit fasst er ein drängendes Problem unserer Zeit in eine traumhaft richtige pädagogisch-künstlerische Form, die Kinder wie Erwachsene anspricht. Seine Illustrationen mit vielen grafischen und comic-ähnlichen Ergänzungen bereichern seine Message.

Lesealter: 5 – 9
Daumen: 5

Die ganze Wahrheit (wie Mason Buttle sie erzählt)

“Die ganze Wahrheit (wie Mason Buttle sie erzählt)”
von Leslie Connor  (Autor), André Mumot (Übersetzer)
Verlag: Hanser
ISBN: 9783446268029

Menschen ans Licht zu holen, denen das Leben übel mitspielt, darf durchaus zu den Leistungen der Literatur gezählt werden. Viele berührende Schicksale von Einzelpersonen finden sich in Epik, Lyrik und Dramatik. Psychische Befindlichkeiten wie Mitleid und Verstörung, Verzauberung oder Bestürzung lassen sich in diesem Medium wohl besonders gut darstellen. 

Eigentlich war Mason Buttle ein liebenswerter, sympathischer Schüler. Sein Pech war nur, dass er für viele seiner Mitschüler auch mit solchen Markierungspunkten ausgestattet war, die ihn zum perfekten Outcast machten. Seine außergewöhnliche Körpergröße, seine Schwerfälligkeit beim Lesen und Schreiben sowie sein übermäßiges Schwitzen luden die bösen Geister geradezu ein, ihn auf Übelste zu hänseln und zu demütigen. Dass er sich nicht zur Wehr setzte und von Eltern- oder  Lehrerseite mit keinerlei Hilfe rechnen konnte, veranlassten seine wenig einfühlsamen Mitschüler zu permanenten Attacken. 

Zum Glück hatte Mason einen Freund: Calvin, Mobbing-Zielscheibe wie er. Klein, schlank und schlau, irgendwie passte er zu Mason. Mit Feuereifer bauten sie an ihrem Projekt, einem Geheimversteck oder einer unterirdische Ruhezone, in der sie vor Matt und Lance geschützt waren.  

Tatsächlich ging ihr Wunsch für kurze Zeit in Erfüllung. Die Höhle bot ihnen Raum zur Entfaltung, zur Umsetzung ihrer Ideen, auch zu gegenseitigem Lob, was vor allem Mason innerlich aufblühen ließ. 

Plötzlich jedoch war Calvin verschwunden. Das bedeutete Unheil, nicht für Matt und Lance, sondern für Mason. Denn der Tod von Benny, einem früheren Freund von Mason, war nicht abgeschlossen, hier tippte Lieutenant Baird noch im Dunkeln. Doch dank seiner Charakterstärke und einem Quäntchen Glück schaffte er es, der Wahrheit zum Sieg zu verhelfen und seinen größten Drangsalierer auszuschalten.

Leslie Connor, die Autorin, schuf mit Mason einen starken, überzeugenden Charakter. Sein Denken und Handeln nimmt den Leser gefangen, doch seine Duldsamkeit Aggressionen gegenüber nervt im selben Maße. Stoff für Diskussionen ohne Ende. “Die ganze Wahrheit” kommt nur tröpfchenweise ans Licht, die Spannungskurve zieht sich, geballt tritt sie erst im letzten Drittel auf. Das erfordert wahrlich einen zur Empathie fähigen Leser. Mason hat nicht nur das heftige Mobbing zu ertragen, auch sein familiäres Umfeld könnte weiß Gott besser sein. Ohne in eine liebende Familie eingebettet zu sein,  muss er als Fast-Waise sein Leben  meistern. Eigentlich zu viel der Tragik für einen 13-Jährigen. Die Autorin schreibt fesselnd und gut verständlich. Der psychisch und moralisch starke Mason wächst einem ans Herz, sein Schicksal berührt zutiefst.  

Lesealter: 14 Jahre und älter
Daumen: 5

Gullivers Reisen

“Gullivers Reisen“
von Jonathan Swift (Autor), Erich Kästner (Autor, nacherzählt), Josefine Taape (Illustrator)
Verlag: Atrium
ISBN: 978-3855356546

So skurril wie Gullivers Reise-Erzählungen selbst ist auch die Geschichte des Buches, das vor 300 Jahren von dem anglikanischen Priester Jonathan Swift aus Dublin geschrieben wurde und zu den meistgelesenen Büchern der Welt zählt. Obwohl es immer wieder neu aufgelegt wird und schon mindestens acht Mal verfilmt wurde, streitet man immer noch darüber, ob es eher ein Kinder-, ein Jugend- oder doch besser ein Erwachsenenbuch ist. Und obwohl hier pausenlos Reisen beschrieben werden, hat es doch mit Reiseliteratur nichts zu tun. Sicher ist nur eines: Es ist – zumindest in dieser herrlichen Atrium-Ausgabe, von Erich Kästner brillant nacherzählt – ein leicht lesbares, fantasievolles, satirisch-kritisches Buch. 

Wie einst auch Robinson Crusoe ist Lemuel Gulliver, J. Swifts Protagonist, auf den Weltmeeren zu Hause. Er gerät in einen Sturm und wird als Einziger an den Strand einer kleinen Insel gespült. Im Gegensatz zu Crusoe’s Eiland ist Gullivers Insel von den zwergenhaften Liliputanern besiedelt. 

Mit dem Arrangement “Der Große und die Kleinen” und dem satirischen Blick im Hinterkopf treibt J. Swift nun süffisant seinen Schabernack und läuft dabei literarisch zur Höchstform auf. Witzige und freche Szenen wechseln sich mit menschlich-tiefsinnigen ab, köstlich die Anspielungen auf menschliche Eitelkeiten, Eifersüchteleien und politische Ungereimtheiten, der moralische Zeigefinger neben den groben Handlungen – alles findet sich hier, was die reale Welt auch zu bieten hat.

Vom Gefangenen arbeitet sich Gulliver zum Liebling und Würdenträger des Kaisers empor. Schließlich verhindert er einen Krieg dadurch, dass er dem Nachbar-Zwergenreich kurzerhand 50 Kriegsschiffe wegnimmt. Als der kaiserliche Palast lichterloh brennt und die Feuerwehr wegen zu kurzer Leitern und Wassernot tatenlos zusehen muss, hilft er, der gute Mensch, kurzerhand auch beim Löschen. Er stellt sich in den Palast-Innenhof und tut das, was kleine Jungen hinterm Haus machen, wenn sie viel Limonade getrunken haben. Gulliver war auch hier erfolgreich, hatte aber in der Eile nicht die sittenstrenge Kaiserin auf dem Schirm. Kurz darauf muss er Liliput bei Nacht und Nebel verlassen.

Kinder mit zehn Jahren werden nicht alle politisch-gesellschaftlichen Anspielungen verstehen: “Beamtenanwärter müssen lernen, um den heißen Brei herumzugehen”. Das sollte aber kein Problem sein, leicht verständliche Szenen mit Lacheffekt gibt es genügend: “Als die feindlichen Matrosen den riesigen Gulliver zu Gesicht bekamen, sprangen 30.000 davon vor Schreck ins Wasser.” Dieser Klassiker zählt zu den Büchern, die man einfach gelesen haben muss. Über menschliche Schwäche und Dummheit zu lachen, gefiel den Menschen schon immer.  

Lesealter: 8 – 10 Jahre
Daumen: 5

Als ich die Pflaumen des Riesen klaute

“Als ich die Pflaumen des Riesen klaute”
von Ulf Stark  (Autor), Regina Kehn (Illustrator, Cover Art), Birgitta Kicherer (Übersetzer)
Verlag: Urachhaus
ISBN: 9783825152222

Ulf und Bernt kennen ihr Wohnviertel besser als jeder andere. Alles okay soweit, richtig interessant ist aber eigentlich nur Oskarsson, der Riese. Nun ja, so nennen sie ihn, denn er wirkt auf sie übergroß, unheimlich, gefährlich. Pech für sie, dass er einen Pflaumenbaum der allerbesten Sorte besitzt. Aber in ihren Köpfen verdichtet es sich: Eines Tages würden diese Pracht-Pflaumen die ihren sein.  

Oskarsson ist ein Rätsel. Einerseits brutal, ein Kinderfresser; andererseits taucht er immer dann auf, wenn seine Mutter Klavier spielt. 

Eines Tages gerät die überschaubare Welt in Turbulenzen: Bernt ist beleidigt, auf die Lieblingshütte von Ulfs Mamas kracht ein Baum und Bernt verlangt von Ulf für die Wiederaufnahme der Freundschaft Viktoriapflaumen vom Baum des Kinder mordenden Riesen. Da Bernt als Freund unverzichtbar ist, steigt Ulf tatsächlich hinauf und pflückt. Den sich nähernden Riesen sieht er nicht. Eine Kleinigkeit nur, dessen Folgen aber das festgefügte Weltbild der beiden erschüttern. 

Der Riese ist so ganz anderes, keine Spur von Menschenfressertum. Er versorgt Ulf mit einer Menge an süßen Pflaumen. Später repariert er Mamas Einsamkeits-Hütte. Wow, Oskarsson ist ein feinfühliger, kunstsinniger Mensch, seine größte Freude das Klavierspiel! 

Das Ertapptwerden beim Pflaumenklau wird zur Zäsur in Ulfs Lebenslauf. So manches, was bisher als felsenfest galt, zerbröselt. Das Neue stellt sich als atemberaubend und perspektivisch hochinteressant dar. Nicht nur für ihn, auch für Oskarsson und seine Mama. Was Bernt betrifft, ist Nachdenklichkeit angebracht. Er hat ihn zum Diebstahl verleitet. 

Dieses Buch legt man nicht wieder aus der Hand, bevor man es zu Ende gelesen hat. Was für eine Wucht auf 90 Seiten! In berührender, einfacher Sprache, witzig und leicht verrückt. Kann Alltag so spannend sein? Lesevergnügen anhand von Lebenserfahrung.

Lesealter: 8 – 10 Jahre
Daumen: 5